Tagungsbericht 30 Jahre Stone Butch Blues – Erinnerungen und Perspektiven
von Anika Höwer, Thordis Ingwersen, Linnea Schüch und Mia Wittschen
Die interdisziplinäre Tagung anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des US-amerikanischen Romans Stone Butch Blues fand am 5. und 6. Mai 2023 virtuell statt, wodurch eine breit gestreute und internationale Teilnehmer*innenschaft ermöglicht wurde. Ziel der Tagung, die von Michaela Koch (Zentrum Gender & Diversity, Hamburg), Jara Schmidt (Universität Hamburg) und Clara Rosa Schwarz (Universität Freiburg) organisiert wurde, war, Leslie Feinbergs Werk zu würdigen und dessen Nachwirken in verschiedenen Disziplinen und im Kontext verschiedener Themenbereiche zu diskutieren. Die Tagung umfasste Panels mit Vorträgen auf Deutsch und Englisch, zwei Workshops, einen Open Space sowie eine Lesung mit der Lyrikerin, Aktivistin und Witwe Leslie Feinbergs Minnie Bruce Pratt († 2. Juli 2023). Von den fünf Panels zu Übersetzungen des Romans, Femme/Butch-Dynamiken (zwei Panels), Räumen sowie queeren und trans Zukünften werden einige exemplarisch beleuchtet (vollständiges Programm).
Übersetzungskritik und Übersetzungspraxis
Deutsche Neuübersetzung als aktivistisches Projekt
Desz Debreceni (Bergisch Gladbach) beschäftigte sich im Rahmen des Vortrags „Re_translating as Activist Practice. Queering the German Translation of Stone Butch Blues“ mit verschiedenen Aspekten der Übersetzungsarbeit. Besonders wichtig ist neben dem Text das Framing: Die Gestaltung des Buches sei abhängig vom Verlagshaus, wobei auch der Klappentext eine große Rolle spiele. Die deutsche Ausgabe von Stone Butch Blues aus dem Jahr 1996 wurde von Krug & Schadenberg herausgegeben, einem Verlagshaus, das sich auf lesbische Literatur fokussiert. Aufgrund dieses Fokus bezieht sich der Klappentext hauptsächlich auf die romantische Begegnung zwischen Theresa und Jess. Außerdem hätten die Übersetzer*innen einige Teile ausgelassen und interpretativ übersetzt. Die Neuübersetzung und das „de-gendern“ seien deswegen wichtige Prozesse, um die Intentionen von Feinbergs Roman herausarbeiten zu können. Dabei gibt es einige Schwierigkeiten – bei der Übersetzung von „friend“ wählte der*die Referent*in beispielsweise „befreundet“ statt „Freund“ oder „Freundin“.
Schwedische und französische Übersetzung
Die Beschäftigung mit dem schwedischen Übersetzungsprozess durch Ylva Emel Karlsson (Malmö) im Vortrag „Translating Translanguage“ und mit der französischen Version durch Marina Allal (Berlin) im Vortrag „,Bousculer les imaginaires et développer des alternatives…‘ On the Reception of Stone Butch Blues in France“ machte weitere herausfordernde Aspekte deutlich. Im Französischen gibt es zum Beispiel eine große Zahl an Wörtern, die Allal als „gender-marked“ bezeichnet. Außerdem diskutierten die Vortragenden das Spannungsfeld zwischen Feinbergs Wunsch, keine Einleitung zum Roman hinzuzufügen, und den Herausforderungen der Übersetzungsarbeit, deren veränderter Sprachgebrauch oft zeitlicher sowie geografischer Einordnung bedarf. Der Austausch der Panelist*innen brachte folglich gemeinsame sowie spezifische Übersetzungshürden zum Vorschein und bot zukünftigen Übersetzer*innen unter den Tagungsteilnehmenden hilfreiche Tipps.
Queere Räume/Räume queeren
Queere Gegenräume und der ‚Normalraum‘
Mit intersektionalen Raumtheorien nach Judith Butler und Michel Foucault beschäftigte sich Jojo Hofmann (Münster), insbesondere mit den Theorien der Gegenräume und Raumaneignungsstrategien. Diese fand Hofmann nach einer Analyse des Romans Stone Butch Blues in den fiktionalen Räumen vor. ,Queertopien‘ existieren demnach in Abgrenzung zum ‚Normalraum‘. Im Roman trete die Polizei als Normenverteidiger innerhalb dieser Gegenräume auf und setze eine staatliche Bestrafung für die Queerness der auf öffentliche Räume angewiesenen Arbeiter*innenschaft durch. Hofmann beleuchtete insbesondere den Raum der Fabrik, in dem Heteronormativität vorherrscht. Dagegen würden sich die Butches jedoch wehren und eine Gegengemeinschaft aufbauen. In der Bar wiederum existiere eine queere Matrix. Die Bar sei ein Raum mit klaren Ordnungsgrenzen, in den die Gewalt aus dem ‚Normalraum‘ hineinreiche. Ein- und Ausschlussmechanismen würden entlang struktureller Diskriminierungslinien der ‚Normalräume‘ verlaufen und queere Räume könnten als Gegenräume einen gewinnbringenden Forschungsgegenstand in der Romananalyse bilden.
Rekonstruktion von Archiven in der Performance
Camellia Choudhuri (Kalkutta) analysierte in dem Beitrag „‚Two truths can exist in the same space‘: Examining Joelle Taylor’s Butch Life-Writing in Performance“ wie Poesie als Archiv und der Rekonstruktion – hier speziell butcher Räume – dienen kann. In Rückgriff auf Ann Cvetkovichs An Archive of Feelings trage die Poesie über Erinnerungen hinaus auch zur Bildung eines Archivs von Gefühlen bei. Außerdem könne mithilfe von „poems as spacial stories through time“ das queere London aus Joelle Taylors Werken reimaginiert werden, das außerhalb der gemeinschaftlichen Erinnerung nicht mehr existiert. Ein besonderes Potential stecke in Taylors Performance, die unter Einbeziehung des Publikums einen einzigartigen Zugang zu diesen queeren Archiven erlaube. Choudhuri stellte so heraus, dass sich Taylors butche Memoiren nicht nur heteronormativen Narrativen widersetzen, sondern das Archiv redefinieren.
Medea in der gequeerten Foto-Love-Story
Den Schluss des Raum-Panels bildete die performative Lesung einer Foto-Love-Story von Nike Hartmond (Berlin/Wien) und Fred Heinemann (Wien) mit dem Titel „Bubbles oder: Weggefährt*innen“. Die Künstler*innen zeigten eine queere Eigeninterpretation des Medea-Mythos, die an einer Tankstelle spielt. Im Kontext des Panels und vor dem Hintergrund von Stone Butch Blues kann die Tankstelle hier als ehemals männlich dominierter, jetzt gequeerter Raum verstanden werden. Die Inszenierung kann aufgrund des vorausgesetzten Wissens um die Medea-Sage etwas kritisiert werden; wer mit dem Mythos nicht vertraut war, konnte eventuell inhaltlich schwerer folgen.
Queere und trans Zukünfte (gestalten)
Handlungsfähigkeit als Strategie
Im Rahmen des Beitrags „Lesben mit Unterstützungsbedarf im Alltag“ stellte Mischa Regenbrecht (Köln) die abgeschlossene empirische Masterarbeit vor. Regenbrecht kam zu dem Schluss, dass Lesben mit Behinderung aufgrund der Verschränkung von Sexualität und Behinderung verletzli-cher sind als nicht behinderte Lesben und besondere Diskriminierung erfahren. Regenbrecht arbeitete die Handlungsfähigkeit der Studienteilnehmer*innen als Strategie in Bezug auf deren Unterstützungsbedarf heraus und als einen Weg in die Zukunft der Pflege.
Butch-Alltag auf TikTok
Jonah Reimann (Berlin) hielt einen Vortrag über Butch-Identitäten und -Solidarität auf der Platt-form TikTok. Dieser basierte auf der These, dass besonders die COVID-Pandemie die Vernet-zung von Butches auf TikTok angeregt habe, um eine Routine zu schaffen, Kunstprojekte um-zusetzen und der Realität zu entfliehen. Dabei fungiere die Online-Welt als Fortsetzung des alltäglichen Lebens, aber auch als historische Fortsetzung der Wichtigkeit, LGBTQ+-Leben sichtbar zu teilen, die sonst prekär und zensiert seien. Es ginge auf TikTok viel um Selbstdarstel-lung und visuelle Marker, die besonders junge Butches inspirieren würden. Als prominentes Beispiel führte Reimann @cowboyjen auf TikTok an, eine*n ältere*n Butch und Vorbild für junge Butches. Auch Stone Butch Blues schaffe auf TikTok einen Weg, sich gesehen zu fühlen. Zusammenfassend hält Reimann TikTok für eine Weiterentwicklung der queeren Community in den Sozialen Medien, ähnlich wie sie in Stone Butch Blues stattfinde.
Erotische Pädagogik
Im Vortrag von Jade Da Costa (Tkaronto) ging es um die sogenannte erotische und engagierte Pädagogik Audre Lordes (Notion of the Erotic, 1984) und bell hooks. Auf dieser Basis kuratiert Da Costa einen Instagram-Kanal, auf dem eine neue Sexualkunde verbreitet wird. Dafür wird mit Interviews gearbeitet, in denen queere Personen von ihren ersten sexuellen Begegnungen erzäh-len und Erfahrungen weitergeben, sowie mit anti-rassistischen und intersektional gedachten Infografiken. Die Erzählungen inkludieren beispielsweise die Erinnerung an indigene Vorstel-lungen von trans Personen als two-spirit people, die mit „trans joy“ konnotiert werden. Sexualkun-de werde meistens unterdrückend und heteronormativ gelehrt, selten so unterstützend und posi-tiv wie in dem vorgestellten Konzept der erotischen und engagierten Sexualpädagogik. Dies fühle sich für die Aktivistin*innen zwar oft chaotisch und ungewohnt an, sei aber ein „kalei-doscope of experience“.
Queere Kindheit
In „Growing Sideways. An Écriture of the Queer Child“ erzählte Hannah Zipfel (Münster) von dem Verhältnis von Queersein und Kindheit in einer videogestützen Lecture-Performance, die ein Tribut an Leslie Feinberg darstellte. Darin verschmolzen vielseitige artistische Elemente, in denen paradoxe Zustände von Vergangenheit und Gegenwart in Einklang kamen, zu einem Vi-deo-Essay, in dem Bezug zu Stone Butch Blues hergestellt wurde. Ausgangspunkt waren Kind-heitserfahrungen queerer Menschen – sich wie ein Alien zu fühlen, als Außenseiter*in, als je-mand, der sich nicht frei entfalten kann –, aber auch Fragmente des Sich-Verstanden-Fühlens, wie das Entdecken des Romans Stone Butch Blues. Parallel wurden verschiedene Thesen aufge-stellt und diskutiert. Kathryn Bond Stocktons queerpessimistische These, dass queere Kinder durch ihre Entfremdung und Andersartigkeit zeitalterierende Fähigkeiten aufweisen und „seit-wärts wachsen“ würden, gab der Lecture-Performance ihren Titel und inspirierte sie.
Stone Butch Blues heute und in der Zukunft
Die Tagung hat die Aktualität und Wichtigkeit der Themen des Werkes von Leslie Feinberg auf vielfältige Art und Weise aufgezeigt. Sie kann als wertvoller Beitrag für die literaturwissenschaft-liche und soziologische Forschung sowie für die Gender Studies gewertet werden. Insbesondere durch die wertschätzende Arbeitsatmosphäre und die interdisziplinäre Interaktion war sie zu-kunftsweisend.
Durch Minnie Bruce Pratt wurde zudem die gängige Art der Beschäftigung mit ihrer Person aufgebrochen, da ihre Werke zwar mit Feinberg verbunden, jedoch auch ganz losgelöst rezipiert werden können. Die Lesung (Aufzeichnung hier) stellte nur einen der vielfältigen und künstleri-schen Beiträge dar, die die Tagung mit ganz besonderen Perspektiven und Zugängen bereicher-ten.
In den vielseitigen Panels wurden interessante Ideen angebracht und die Bedeutung des Romans in Zusammenhang mit Verlagshäusern, Gesellschaft und Aktivismus hervorgehoben. Darüber hinaus wurde auch eine inklusive Atmosphäre geschaffen. Nichtsdestotrotz ist aufgefallen, dass die Vorträge größtenteils aus einer weißen Perspektive entsprangen.
Abschließend lässt sich resümieren, dass die Tagung zum Jubiläum von Stone Butch Blues ein Gewinn für alle war und einen Anlass zur weiteren Beschäftigung in der Zukunft gab.