SoSe 2023
Diversity & Intersectionality: Theoretische Perspektiven und analytische Konzepte von Robel Afeworki Abay
Im Mittelpunkt des Seminars steht die These, dass eine intersektionaltätstheoretische Perspektive sich als besonders geeignet erweist, eine gewinnbringende Diskussion über den Umgang mit Differenz, Ungleichheit und Diversität in der Dominanzgesellschaft zu eröffnen. Eine kritisch-reflexive und herrschaftskritische Thematisierung von diskursiv hervorgebrachten und institutionalisierten Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen wie z.B. Rassismus, Ableism, (Hetero)Sexismus und Homonationalismus ist insbesondere vor dem Hintergrund aktueller politischen Diskursverschiebung von großer Relevanz für die Selbstpositionierung sowie für Intersektionalitäts- und Diversitätsforschung, da die veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen auch fatale Einflüsse auf die praktische Arbeit mit den Betroffenen sowie für die wissenschaftliche Forschung sozialer Ungleichheitsverhältnisse haben.
Die Erörterungen ausgewählter Seminarlektüre erfolgen auf der Grundlage der theoretischen Ansätze von Diversity & Intersectionality, die einen herrschafts- und dominanzkritischen Zugang zu Kontexten und Modalitäten der Herstellung, Aktualisierung und Reproduktion patriarchal-heteronormativer Strukturen und sozialer Ungleichheitsverhältnisse ermöglichen:
- Intersektionalität: Zum einen werden wir uns mit den vielfältigen intersektionalen Identitäten, Zugehörigkeiten und Lebensrealitäten sowie mit symbolischen und politischen Repräsentationen marginalisierter Gruppen befassen. Anhand dieser theoretischen Auseinandersetzung mit Perspektiven auf Gesellschaft und Institutionen wie z.B. Soziale Arbeit, Schule oder Beratungsstelle wird danach gefragt, welche Herausforderungen die fortbestehenden heteronormativen Strukturen insbesondere für marginalisierte Gruppen wie BIPoC (Black, Indigenous and People of Color), be-hinderten und queeren Communities darstellen, die durch machtvollen Zuschreibungen als ,,die Anderen“ konstruiert und von einer gleichberechtigter Teilhabe an der Gesellschaft ausgegrenzt bzw. ausgeschlossen werden.
- Diversity: Zum anderen werden wir im Seminar über die fehlende Anerkennung und Wertschätzung gesellschaftlicher Vielfalt (Diversität) und die damit einhergehenden erschwerten politischen, sozialen und ökonomischen Teilhabe- und Verwirklichungschancen marginalisierter Communities in einer kapitalistisch organisierten Dominanzgesellschaft kritisch hinterfragt.
Auf dieser Basis werden Teilnehmende des Seminars zentrale Grundlagen der intersektionalen Ungleichheits- und Diversitätsforschung (Diversity & Intersectionality) kennenlernen, um theoretische Überlegungen mit der Praxis sinnvoll in Verbindung zu setzen.
Zur Lehrperson
Robel Afeworki Abay positioniert sich als afro-deutscher und queer-feministischer Aktivist. Zurzeit promoviert er im Zentrum der Inklusionsforschung (ZfIB) der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Erkenntnisinteresse seines partizipativen Dissertationsprojekts liegt darin, die theoretischen und empirischen Teilhabediskurse über BIPoC mit Behinderungserfahrungen im Kontext der Erwerbsarbeit zu schärfen und entfalten. Zuvor studierte er Soziologie und Politikwissenschaften an der Addis Ababa University, Äthiopien und Cardiff University, Wales, UK sowie Soziale Arbeit an der Universität Kassel. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich wissenschaftlich und politisch-aktivistisch mit den Themen: Intersektionalität; Rassismus & Ableism; Gender, Queer and Disability Studies; Partizipative Forschung; Postkoloniale Theorien & Dekoloniale Ansätze; Klimagerechtigkeit; Migrations- und Diversitätsforschung.
Menschenrechte und darüber hinaus von Maria Guadalupe Rivera Garay & Gilberto Rescher
Im Zusammenhang mit Minderheiten, Diversität von sexueller Orientierung und Klimawandel entstehen oft Diskussionen über Rechte sowohl für das Individuum, Kollektive oder sogar für die Natur. Bruno Latour schreibt in seinem Buch “Kampf um Gaia”: Die Wälder, die Luft und die Meere bräuchten Rechte, ein „Parlament der Dinge“ würde die Zweiteilung von Natur und Gesellschaft aufheben und eine Neuordnung des Kollektivs vornehmen, das dann aus Menschen und nicht-menschlichen Wesen zusammengesetzt wäre. In unterschiedlichen Berichterstattungen sehen wir wie indigene Gruppen gegen Extraktivismus kämpfen, und dabei die Anerkennung ihrer Rechte als eigentliche historische Besitzer bestimmter Territorien durchsetzen wollen. Gleichzeitig werden sie in internationalen Foren als wichtige Akteure gehandelt, um den Klimawandeln zu stoppen. In Deutschland ziehen die erste Transfrauen ins Parlament, sie werden gefeiert, aber auch kritisiert und diskriminiert. Worin besteht die Diskrepanz zwischen diesen Fällen? Was sagt dies über Vorstellungen von Menschenrechten aus? Sind es Privilegien für bestimmte Individuen oder Kollektive oder können sie anders gedacht werden.
In diesem Zusammenhang möchten wir in einem transregionalen Vergleich anhand solcher Beispiele diskutieren, wann, wo und für wen in der sozialen Realität welche Rechte gelten unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir weltweit in einem kolonial geprägten System von Ungleichheiten (im Sinne der dekolonialen Ansätze) leben.
Zu den Lehrpersonen
Maria Guadalupe Rivera Garay ist Hñähñu (ein indigenes Volk aus Zentralmexiko). Sie hat ihren Bachelor (Licenciatura) in Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildung in Mexiko-Stadt studiert. In Deutschland hat sie ihren Titel als Diplom-Soziologin an der Universität Bielefeld erworben, mit den Schwerpunkten Geschlechterforschung, Entwicklungssoziologie und qualitative Methoden. Zurzeit schließt sie ihre Promotion an der Fakultät für Soziologie in Bielefeld ab. Sie arbeitet als Referentin für Globales Lernen, als Dozentin und macht auch Übersetzungsarbeit.
Ihre wissenschaftlichen Interessen liegen in der Forschung zu Migrationsprozessen von ethnischen Minoritäten und der Genderdimension, Transnationalität und Translokalität sowie auf sozialen Ungleicheiten in globalen Süden. Genderfragen und Feminismen im Kontext von Kolonialität und Dekolonialität sind ein weiterer wichtiger Forschungsbereich. Eine ihrer zentralen Interessen liegt in der Vermittlung und Analyse der Sozialtheorie Lateinamerikas, der Diversität, Intersektionalität, Subalternität und Alterität im Kontext von indigenen Gesellschaften. In diesem Kontext arbeitet sie zu Konzepten von Gemeinschaft, Wissen aus indigener Perspektive, Transfers und ihrer Einbettung im Rahmen globaler Prozesse wie Klimawandel und Feminismus sowie zu den theoretischen Ansätze indigener Intelektueller, sowohl von Wissenschaftler:innen als auch anderer Denker:innen.
Gilberto Rescher ist Koordinator der Lateinamerika-Studien der Universität Hamburg und hat an der Universität Bielefeld in Soziologie promoviert. Seine Doktorarbeit trägt den Titel „Doing Democracy in Transnacionalized Indigenous Communities: The Negotiation of Local Political Change in Central Mexico“ und basiert auf einer fast zweijährigen ethnographischen Feldforschung (aufgeteilt in mehrere Phasen) im Valle del Mezquital, einer mexikanischen Region, die als indigen gilt. Gilberto Rescher hat an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Bielefeld gearbeitet und neben diversen Kurzaufenthalten an mexikanischen Universitäten.
Seine Forschungsinteressen umfassen (Lokal-) Politik, Entwicklung und alternative Perspektiven, Migration, Transnationalität/-lokalität, sozial minorisierte Gruppen, Indigenität/Ethnizität, Genderfragen, dekoloniale Perspektiven, „Soziologien des Südens“ und qualitative Methodologie. Er hat umfangreiche empirische Feldforschung in Mexiko, Nicaragua, den USA und auf den Philippinen durchgeführt. Auf dieser Grundlage veröffentlichte er mehrere Artikel, u. a. über Migration und politischen Wandel in einer indigenen Region Mexikos.
Queeres Gender in der Literatur – Butch, Femme, Trans von Dr. Jara Schmidt & Clara Rosa Schwarz
1993 veröffentlicht und mittlerweile ein Klassiker der queeren Literatur feiert Leslie Feinbergs Roman Stone Butch Blues 2023 sein 30-jähriges Publikationsjubiläum. Der Roman wird als Initiator der Trans Studies betrachtet und trug zu einer Verschiebung vom Sprechen über trans Menschen zu vermehrter Sichtbarkeit von trans Stimmen in Gesellschaft und Wissenschaft bei. Zu Beginn der 1990er-Jahre wurden in den USA außerdem die Queer Studies als interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Forschungsrichtung etabliert, die mithilfe einer Queer Theory – also einer ›schrägen‹, ›verqueren‹, die Gesetzmäßigkeiten hinterfragenden Theorie – sexuelle Identitäten und sexuelles Begehren kritisch untersucht. Dabei werden Machtformen und Normen, bspw. die Annahme einer Binarität von Männlichkeit vs. Weiblichkeit oder Heterosexualität vs. Homosexualität sowie eine heteronormative Sozialisierung, analysiert und dekonstruiert.
Die Lehrveranstaltung ermöglicht den Studierenden anhand von Prosatexten – neben Stone Butch Blues wird zudem Lou Conradis Baby Butch (2019) gelesen –, Lyrik sowie wissenschaftlichen Beiträgen einen Zugang zu queerer Literatur. Die zentralen Themen orientieren sich dabei insbesondere an der Schnittstelle von Sexualität und Geschlecht sowie ihrer Beziehung zu Race und Klasse. Die Studierenden lernen die Geschichte von Femme/Butch-Dynamiken kennen, setzen sich mit (trans) Geschlechtlichkeit auseinander und betrachten anhand literarischer Texte die Entwicklung dieser Thematiken in den letzten 30 Jahren.
Zu den Lehrpersonen
Dr. Jara Schmidt ist Literaturwissenschaftlerin am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Nach einem Studium der Anglistik, Germanistik und Neueren Geschichte promovierte sie in der Germanistik (Interkulturelle Literaturwissenschaft) mit der Arbeit Literarische Narreteien. Karnevaleske Strategien in deutsch- und englischsprachigen Migrationsromanen der Gegenwart (2019). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: postmigrantische und postkoloniale Diskurse in Literatur und Kultur; Gender Studies; Queer Studies; Hexenforschung.
Clara Schwarz promoviert in der Soziologie der Uni Freiburg und erforscht die Rolle und Entwicklung queerer Freund*innenschaft während der Corona-Pandemie. Clara hat einen Master in Gender & Sexuality Studies sowie einen Bachelor in Soziologie. Clara forscht zu und interessiert sich für queere Freund*innenschaften, queere Carearbeit, sowie Femme Studies und queere Literaturgeschichte.
Undoing Time von Yannik Ehmer
In diesem Blockseminar sollen zeitgenössische Impulse der Queer Theory und Gender Studies aufgenommen und anhand der Kategorie „Zeit“ im weitesten Sinne expliziert werden: Wie lässt sich Zeit in einem queeren Sinne bestimmen? Wie hängen Geschlechtlichkeit und Zeitlichkeit zusammen? Inwiefern verschieben sich die Konstellationen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor dem Hintergrund queerer Temporalitäten? Wie lassen sich lineare Verläufe von Zeit ent-binden (als Undoing von Zeit)?
Diese und weitere Fragen sollen uns im Blockseminar beschäftigen. Die Kategorie der Zeit, die sich selbst an der Schnittstelle von Philosophie, Theologie, Geschichtswissenschaft, aber auch von Physik und Mathematik u. a. ansiedeln lässt, eröffnet dabei ein interdisziplinäres Potential, das sich auch in der Literaturauswahl niederschlägt und damit die Anschlussfähigkeit für eine Vielzahl von Disziplinen sicherstellen kann.
Obgleich sich die einzelnen Lösungsansätze voneinander unterscheiden, teilen sie doch diese Fundamentalüberzeugung: Queere Utopien und Temporalitäten sind zentrale Desiderata der aktuellen Theoriebildung. Sie bringen anders geartete Temporalitäten hervor, die außerhalb der linear angeordneten Parameter von Geburt, Ehe, Fortpflanzung und Tod liegen.
Zur Lehrperson
Yannik Ehmer studierte Philosophie, Mathematik und Evangelische Theologie in Berlin, Edinburgh und Seoul. Yannik Ehmer ist Doktorand*in der Evangelischen Theologie (Fach: Altes Testament) an der Humboldt-Universität zu Berlin und promoviert zum Thema „Diskursive Weisheit?! Eine Untersuchung zu Poetik und Komposition von Prov 10,1–22,16“ mit einem Promotionsstipendium der Studienstiftung. Yannik Ehmer lehrte als wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in am Lehrstuhl für Literatur-, Religions- und Zeitgeschichte des Urchristentums (Prof.in Dr.in C. Gerber) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Yannik Ehmers Forschungsschwerpunkte sind die biblische Theologie mit dem Schwerpunkt Weisheitsliteratur, die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts, postmoderne Hermeneutik(en) und Epistemologien, das Verhältnis von Ästhetik und Ethik und die Queer Studies und Gender Studies in ihrem Verhältnis zur Theologie.