Geschlecht ist eine Querschnittskategorie in der Forschung

In nahezu allen Fächern führt die Berücksichtigung von Geschlechteraspekten zu neuen Erkenntnissen. Das zeigen die Forschungsergebnisse der Science & Technology Studies und der Genderforschung. Seien es die Kenntnisse von bedeutenden Kompositionen in den Musikwissenschaften (Datenbank MuGi), sei es die Analyse der unterschiedlichen Effekte von Epidemien, der Klimakatastrophe oder der Sorgetätigkeit für die Geschlechter. Im Karosseriebau, dessen Verwendung von männlichen Normgrößen zur Konstruktion von passenden Karosserien für Personen führt, die dieser Normvorstellung entsprechen, öffnet die Kategorie Geschlecht die Perspektiven und hilft, passende Karosserien für alle Menschen zu entwickeln (Draude n.d.). Bei der Erforschung des Befruchtungsvorgangs machte erst die Geschlechterperspektive deutlich, dass Eizellen aktiv an der Befruchtung teilnehmen (Martin 1991). In der Molekularbiologie trug die Geschlechterkategorie dazu bei, das geschlechtsbestimmende Faktoren nicht nur auf dem Y-Chromosom gesucht und gefunden wurden (Fausto-Sterling 2000). In der Medizin sind inzwischen die unterschiedlichen Herzinfarkt-Symptomatiken unter den Geschlechtern ein bekanntes Beispiel. Auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung basiert nicht auf ‚naturgegebenen‘ Eigenschaften der Geschlechter, vielmehr werden berufliche Tätigkeiten entsprechend der gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht vergeschlechtlicht und in Wechselwirkung damit Frauen und Männern Eignungen für bestimmte Tätigkeiten zugesprochen (Peukert 2020).

‚Geschlecht in der Forschung‘ ist ein komplexer Themenbereich, der in der fächerübergreifenden Genderforschung und in den Science & Technology Studies gut erforscht ist. Der umfangreiche Literaturkorpus zu Genderaspekten in der Forschung lässt sich aber nicht so leicht ‚nebenbei‘ aufgreifen. Es erfordert Zeit, sich in die Forschungsergebnisse einzuarbeiten und Zeit ist eine wertvolle Ressource im Forschungsbetrieb. Hinzu kommt, dass die Genderforschung oftmals einem intersektionalen Verständnis folgt, in dem mehrere Vielfaltsdimensionen, wie etwa Gender, Rassifizierungen, Klasse, Alter und Behinderung, zusammenwirken. Das macht die Thematik noch vielschichtiger. Die Leitlinien der DFG, der Exzellenzstrategie und von EU Horizon fordern alle Forschenden dazu auf, ihre eigene Forschungspraxis hinsichtlich dieser komplexen Geschlechter- und Vielfaltsaspekte zu reflektieren.

360° bietet Unterstützung bei der Umsetzung dieser Anforderungen. Das Projekt basiert ebenfalls auf einem intersektionalen Ansatz, sein Hauptaugenmerk gilt jedoch der Kategorie Geschlecht. Zum Beispiel hilft 360°, die eigene Forschung hinsichtlich der Kategorie Geschlecht zu befragen: Ist Geschlecht relevant für die eigene Forschung? In welcher Weise spielt diese Kategorie im Erkenntnisinteresse, in der Fragestellung, in der Datenerhebung, -auswertung und -interpretation eine Rolle? Gibt es ‚blinde Flecken‘ oder implizite Annahmen über Geschlecht? In welcher Weise kann ich als forschende Person selbst einen vielleicht ungewollten Einfluss auf die Untersuchung und die Interpretation der Daten haben? Dabei gehen die Angebote von 360° auf die unterschiedliche Relevanz von Geschlecht in den verschiedenen Fächern ein. Sie unterstützen die fachspezifische Reflexion der Kategorie Geschlecht und entwickeln passgenaue Instrumente für die Einwerbung von Forschungsgeldern, auch für interdisziplinär angelegte Projekte.